Winterausfahrt 2021

Der Kajaker begehrt, was der Skifahrer fürchtet

Einem kurzen, aber heftigen Tauwetter haben wir es zu verdanken, dass ihr heute diese Zeilen lesen könnt. Eigentlich steckt man ja als Vollblutpaddler zu einer Jahreszeit wie dieser im tiefsten Winterschlaf, oder zumindest im BORG Bad beim Rollentraining. Leider hat sich die Natur dazu entschieden, der Menschheit ein anschauliches Beispiel der Evolution in Form einer Virusmutation zu präsentieren. Adieu, Rollentraining! Der geneigte Leser möge sich an dieser Stelle bitte ein trauriges Schniefen vorstellen.

Glücklicherweise ist das Virus nicht das Einzige was derzeit mutiert. Auch die Pegelstände unterziehen sich dieser Tage einer außergewöhnlichen Wandlung. Letzte Woche lag das Wasser noch in einzigartig schillernder Kristallform unter dem Belag meiner Skier, heute betreiben wir umgekehrte Ahnenforschung auf Molekularebene im Wasserkreislauf des Piestingtals. Ein wenig erinnert das ganze an den vergangenen Herbst. Ich traue mich das Wort Deja-Vü gar nicht laut auszusprechen, da ich Angst habe, dass die Maschinen dann plötzlich eine weitere Virusmutation in die Matrix einspeisen werden.

Apropos Angst, schonmal 5 m3/s Wasser auf der Piesting erlebt? Zur Erinnerung: Im Herbst des vergangenen Seuchenjahres waren wir bei etwa 2 m3/s unterwegs. Das entspricht etwa einem Wassertand von 147cm. Das Jahr davor waren wir schon froh, wenn wir über 130cm hatten. Heute waren es über 165cm. Verglichen mit den 30 m3/s am Pegel Singerin oder den 11m3/s in Klausenleopoldsdorf schien uns die Piesting dann doch noch als der wohl moderateste Einstieg in die Paddelsaison des verlängerten Seuchenjahres.

Schon bei der Fahrt ins Piestingtal hinein steigt der Adrenalinpegel als wir die Wassermassen bestaunen, die in Waldegg aus dem Zusammenfluss von Piesting und Dürnbach entstehen. Oberhalb von Waldegg ist die Piesting zu einem breiten Strom angeschwollen. Der hohe Wasserstand verdeckt dabei jegliche Stromschnellen und gaukelt beinahe friedfertige Verhältnisse vor. Einzig die braune Farbe und die Wehranlagen zeugen von erhöhter Durchflussmenge. Auf der Hollinger Wehr angekommen staunen wir nicht schlecht. Die Anlegestelle liegt im Trockenen, die Tore sind hochgefahren. Das Wasser was hier sonst für eine gemütlichen Ausstieg sorgt rotiert nun im Strudel hinter der Wehrmauer.

Man möchte fast meinen, das Universum möchte für die entgangene Hamersbach-Befahrung entschädigen. Aus der anfänglichen Skepsis wandelt sich nun vorsichtige Vorfreude. Während Julian im Bootshaus das Rauchzeichen-Kommunikationssystem aufsetzt, der gewöhnliche Homo Sapiens würde den Ofen zum Heizen verwenden, blinzeln von draußen die ersten Sonnenstrahlen durchs Fenster. Gut geräuchert und etwas wärmer eingepackt als sonst, begeben sich Philipp, Fiona und Julian Richtung Auto. Die sterbenden Schneereste lassen keine Zweifel aufkommen, dass trotz 8°C und Sonne tiefster Winter herrscht. Im Schatten können die Neoprenschuhe der Kälte der Altschneefelder kaum etwas entgegensetzten. Am Einstieg hingegen ist die mindernde Reibwirkung des Schnees eine angenehme Erleichterung beim Alpinstart.

Auf dem Weg zum Einstieg werden sämtliche potenzielle Gefahrenstellen vorbesichtigt. Die Bundesstraßenbrücken, der Blättertalkaterakt, das Nadelstiftwehr, das andere Wehr kurz davor und abschließend noch ein paar Abfälle in Gutenstein selbst. Wir bemerken, wir fallen auf. Anscheinend dürfte es in Gutenstein noch nicht gang und gebe sein, dass 3 Menschen in figurbetonten bunten Röcken durchs Ortsbild spazieren. Das Auto mit den 3 Booten ist erwartungsgemäß auch eher auffällig. So wundert es nicht, dass wir bei der Durchfahrung der ersten beiden Brücken in Gutenstein von neugierigen Passanten beobachtet werden.

Unter den kritischen Augen der Bewunderer schlängeln wir uns inmitten von Steinmauern durch das Gutensteiner Ortsgebiet Richtung Pernitz. Nach Überwindung der ersten 3 kleinen Gefällestufen folgt eine lange Gerade mit der Durchfahrt unter dem Schuhhaus. Sie bietet die letzte Verschnaufmöglichkeit vor dem ersten Abfall. Julian übernimmt die Führung. Er nimmt Anlauf und steuert mittig auf die Abrisskante zu. Er platziert sein Boot zielgenau inmitten eines braunen Gumpens umringt von rauschenden Stromschnellen. Philipp folgt dicht dahinter. Fiona hält etwas mehr Abstand.

Was für eine Freude! Das Gespür fürs Boot ist schneller wieder da als gedacht. Fast so, als hätte es die dreimonatige witterungsbedingte Zwangspause nicht gegeben. Am Ende des ersten Abfalls schießt das Boot ausnahmsweise mal ohne Unterstützung des steinernen Unterbodens wieder zurück an die Oberfläche. Das Gefühl, nur durch das begrenzte Auftriebsvolumen eines Eskimo Kendos die Oberflächenspannung zu durchbrechen ist ein seltenes Erlebnis auf der Piesting.  Einfach herrlich! Es folgt erneut ruhiges, dennoch schnelles Wasser bis zum nächsten Abfall. Das Ganze wiederholt sich noch ein drittes Mal, bevor wir wieder umringt von Felsmauern das Ortsgebiet verlassen und auf das erste Wehr zusteuern.

„Bin fast da!“ Als gestörter Star Wars-Fan und Kajaker der schonmal den gemauerten Graben durch Gutenstein gepaddelt ist, kann man besagte Szene wohl gut nachvollziehen. Vor allem dann, wenn das Schleusentor am Ende des Grabens gerade so weit geöffnet ist, dass man als biegsamer Jungpaddler hindurchschlüpfen könnte. Alles was es dafür braucht ist etwas Schwung und ein beherztes Duckmanöver zum richtigen Zeitpunkt. Mit Zielcomputer wäre das einfacher. Halt! Luke hat seinen ja auch nicht benutzt. Na dann! Möge der Wurfsack mit dir sein. Die restlichen Wegbegleiter haben sich vom Geschwader gelöst und geben Rückendeckung aus sicherer Distanz.

3. 2. 1. Und dann befindet man sich im Blindflug. Das Paddel liegt nur mehr locker mit einer Hand auf der Seite damit der Kopf möglichst nahe an die Spritzdecke herangeführt werden kann. Bevor die steigende Lautstärke das Eintreffen des Geschosses im besagten Kanal ankündigt wandert die linke Hand zurück zum Schaft und mit ihr der Blick wieder nach vorn. Der Oberkörper wandert aufwärts und die Augen versuchen verzweifelt festzustellen wo sich der Rest des Körpers nun eigentlich befindet. Und wie Sie sehen, sehen Sie nichts. Denn bevor die Augen auf die Umgebung scharfstellen können, schützen sie sich vor den hereinstürzenden Schaumkronen am Ende der Wehranlage. Immerhin bedeutet das, dass man erfolgreich unter dem Schleusentor durch ist.

Die Wegbegleiter sind sichtlich erleichtert und der einheimische Wehrbesitzer ebenfalls. Auch er dürfte diese grenzblöde Aktion mit Spannung verfolgt haben. Es geht weiter. Zwischen scharfen Kehrwasserdümpeln und überschwemmten Baumstämmen geht es weiter zum Nadelstiftwehr. Auf dem Weg führt Julian mit seinem Rexy ein paar Kunststücke in der Vertikalen vor. Solange bis ein ungewolltes Rettungsmanöver in der Horizontalen notwendig wird. Dann scheint er genug davon zu haben. Das Nadelstiftwehr präsentiert sich heute prall gefüllt. Alle Schleusenmauern sind reichlich überspült und lassen das Wehr lauter und bedrohlicher anmuten, als es bei diesem Wasserstand eigentlich ist.

Tatsächlich sorgt die höhere Wassermenge dafür, dass die Boote sowohl die Mauer als auch die anschließende Rampe mit weitaus weniger Kraftaufwand des Paddlers überwinden können. Während Philipp und Julian dieser Verlockung nicht widerstehen können, umträgt Fiona erneut und stößt nach Mündung der Fischtreppe wieder zu uns zurück. Es folgt eine weitere ruhige Passage, die nur kurz durch einen querliegenden Baum behindert wird. Julian macht kurzen Prozess und bricht ihn bei einer kontrollierten Kollision in zwei. Dann steht auch schon der Blättertalkaterakt bereit.

Philipp übernimmt die Vorfahrt und bezieht mit Wurfsack und Kamera bewaffnet am Ende des Kateraktes Stellung. Als erster folgt Julian. Nach einer gut gewählten Einfahrt kommt er am Ende das Kateraktes zum Stützen. So etwas hat auf dieser Strecke auch eher Seltenheitswert. Normalerweise ist es hier zum Stützen erst gar nicht tief genug. Fiona setzt noch einen drauf und erhöht den Spannungsfaktor als sie nach einer etwas zu seitlichen Einfahrt an einem Felsen abgelenkt und mit der Bootsspitze gegen das Ufer geschoben wird. Die Breitseite des Bootes bietet der Strömung eine gute Angriffsfläche und sorgt bei Philipp für eine Schrecksekunde, als ihr Boot plötzlich flussaufwärts zu kippen beginnt. Da hat er sich schon die Kamera gegen den Wurfsack tauschen sehen. Reflexartig kann Fiona aber gegenkanten und so schiebt die Piesting Fiona einfach rückwärts ins angrenzende Kehrwasser. Einen kurzen Schreckmoment später schwingt sie wieder in der Katarakt ein und verlässt ihn fahrplanmäßig Richtung Auenlandschaft.

Hier zeigt sich nun das Ausmaß der heutigen 4,2 m3/s. Im oberen Verlauf war bis dato nur sporadisch sichtbar wo das Wasser die Landschaft unter Wasser gesetzt hat, weil sie dort fast ausschließlich als Kanal geführt wird. In den verzweigten Mäandern des Niemandslands zwischen Gutenstein und Pernitz kann sie sich jedoch nach Herzenslust entfalten. Sackgassen und Altarme verbinden sich zu Durchfahrten und eröffnen ganz neue Linienführungen. Baumhindernisse werden schlicht überspült und Kehrwässer werden zu richtigen Strudeln. An anderer Stelle sorgen überspülte Schilfgürtel mit Schneeresten für bizarre Landschaftseindrücke. Lediglich der ein oder andere Weidezaun liegt gefährlich nahe an der Wasseroberfläche und erfordert erneut ein paar geschickte Verrenkungen wie sie sonst nur im Yoga zu finden sind.

Im nicht vorhandenen Stausee vor dem Hollinger Wehr angekommen, stehen wir vor der Herausforderung uns und unsere Boote aus dem Wasser zu kriegen. Unsere übliche Anlegestelle liegt heute zu tief und direkt in der Hauptströmung ohne Kehrwasser. Eine Befahrung des Wehres wird nach der bereits fortgeschritten Absenkung unser aller Körpertemperatur auch nicht mehr in Erwägung gezogen. Stattdessen wird, etwas umständlich, am gegenüberliegen Ufer ausgebootet. Es folgt ein Regenschauer, dem wir im trockenen Bootshaus bei loderndem Kamin trotzen. Anschließend gibt es warmes Essen und einen kalten Radler. Als der Vorbote der herannahenden Kaltfront wieder abzieht wird ausgependelt. Wenig später sind die Boote wieder am Dach und wir folgen der braunen Suppe wieder aus dem Piestingtal hinaus.

Am Abend sind alle Hinweise auf unsere Bootstour schon wieder verschwunden. Innerhalb weniger Stunden fällt die Temperatur von 10°C auf 2°C. Inzwischen schneit es sogar wieder. So schnell das Kajakfenster geöffnet wurde so schnell schließt der Winter es auch wieder. Jetzt sind die Wintergeräte wieder am Zug. Die Paddelsaison kommt noch früh genug. Bis dahin.

Euer Paddelclub Pernitz