Schwechat 2020

Die Pegeljagd ist eröffnet

Der derzeit herrschende europäische Sommermonsun gepaart mit den stark schwankenden Wetterprognosen, welche dem coronabedingtem reduziertem Flugverkehr geschuldet sind, fängt an sich in meine schulischen Angelegenheiten einzumischen. Die sich inzwischen halbtäglich zwischen Dauerregen, Gewitter und Sonnenschein abwechselnden Wettervorhersagen führen dazu, dass meine Konzentration, welche in der Hauptprüfungszeit eigentlich der FH gewidmet sein sollte, beinahe zur Gänze in der River App oder INCA-Analyse der ZAMG steckt. Ich beobachte die Entwicklung gefährlicher Routinen, bei denen ich die Websites meiner Wetterkolumnisten inzwischen minütlich nach neuen Infos überprüfe, obwohl ich weiß, dass das nächste Update frühestens morgen erscheinen wird.  „Oh, noch keine neuen Wetterinfos? Schade.“ Mein Gehirn eine Sekunde später: „Hast du schon ins Wetter geschaut.“ Ich greife mir auf die Stirn.

So geht das schon eine ganze Weile. In der letzten Woche des Mai erreicht die Spannung ihren Höhepunkt. Die Schwechat kratzt gefährlich nahe an ihrer Fahrbarkeitsuntergrenze. Die Nachmittage entwickeln sich zu spannungsgeladenen Gipfeln der Unproduktivität, die selbst Lothar-Günther Buchheim nicht spannender erzählen hätte können. Meinem Handyprozessor muss inzwischen das Kotzen kommen so schnell und regelmäßig wie ich die River-App öffne und wieder schließe. Und gerade als man ein bisschen Abstand nimmt, gemütlich beim Heurigen sitzt, da schlägt das Echolot plötzlich an. Die Peilung: Klausenleopoldsdorf, 190cm, 8m³/s. Das ist das 80-fache der Durchflussmenge, die sonst durch das Helental tröpfelt. Es ist 21:00. Wie lange der Pegel wohl hält? 160cm braucht es, bei weniger wird’s nix.

21:30, 22:00, 22:30, der Pegel stagniert bei 180cm. Das ist ungewöhnlich. Normal fließt das viel schneller ab. Ist die Klause zu, wird die Abgabemenge reguliert, regnet es vielleicht immer noch? In Kottingbrunn ist es trocken von oben. Auch der Himmel ist fast frei. Bei Blick Richtung Anninger verfinstert sich der Horizont so bedrohlich, dass man meinen möchte eine Sintflut stehe kurz bevor. Der Wind weht mäßig. Es bleibt aber trocken. Keine Anzeichen eines Gewitters. Weder Donner noch Blitze. Die Nacht wird zur Geduldsprobe. Hält der Pegel? Hoffentlich hält der Pegel.

05:00. Das Handy läutet. Es ist der Morgen des 27.05.2020. Der Wecker muss nicht lange läuten. Mein sonstiger Tiefschlaf wich einem seichten Dösen unterbrochen von Traumsequenzen, in welcher ich den Pegel weiterbeobachte. Nicht einmal im Schlaf lässt mich das Wetter in Ruhe. Als ich den Online-Pegel aufrufe bin ich so wach wie am Ende einer achtstündigen Samstagsnachmittagsvorlesung: schon lange, aber nie wirklich. 167cm, Pegel stark fallend. Der Herzschlag geht etwas in die Höhe. Das Denkvermögen bleibt weiter auf Tauchfahrt. 1cm Abfall in der letzten halben Stunde. Um 08:00 beim Einstieg. Eine simple Hochrechnung wird im Zustand geistiger Umnachtung zur Intelligenzprobe. 3 Stunden, macht 6 halbe Stunden, macht weitere 6cm Abfall bis 08:00. Das bedeutet einen Pegel von 161cm. Beachtet man das leicht exponentielle Abklingverhalten des Pegels so wird der Abfall mit der Zeit zusätzlich langsamer. Dann ist ein Einstieg auch bis 09:00 kein Problem.

Als ich die Hochrechnung in meinem Kopf noch ein zweites und drittes Mal durchlaufen lasse bin ich mir sicher. Ich lege das Handy beiseite und wecke das schlafende Wesen neben mir. Aufstehen! Der Pegel passt. Der Blick, der mich daraufhin streift, ist nicht gerade von überschwänglicher Freude durchzogen. Der Wille ist noch tief versteckt. Aber er ist ausreichend. 05:40 Abfahrt aus Kottingbrunn. 06:00 Abstellen des unteren Autos in Baden. 06:20 Aufladen der Boote in Brunn am Gebirge. 07:15 Abfahrt Richtung Alland. 07:54 Ankunft Einstieg.

Bei der Ankunft sind wir allein. Aufgrund der Kurzfristigkeit dieses Unterfangens sind wir, Fiona und Philipp, nur zu zweit unterwegs. Der Anblick der sich uns bietet lässt die Vorfreude steigen. Die Klause ist durchzogen von hellbraunen Wasserarmen. Das hohe Grass ist noch feucht. Abladen. Umziehen. Einbooten. Der Weg zum Einbooten zieht die verwunderten Blicke vorbeifahrender Autofahrer auf sich. Der Einstieg liegt oberhalb des Staubeckens. Über der Klause blendet die tiefstehende Sonne. Die Durchlassöffnungen sind aus der Ferne erahnbar. Spritzdecke zu. Paddel bereit. Ein kurzer Rutsch und ein Schwall Wasser schießt ins Gesicht. Die Nervosität hat ein Ende. Jetzt kann der Pegel nirgendwo mehr hin. Jetzt haben wir ihn. Endlich haben wir den Pegel erwischt.

Die Fahrt durch das Klausentor wirkt wie eine Überleitung in ein neues Kapitel. Ab hier gibt es nur mehr Paddeln. Der Flusscharakter bleibt schnell, aber unschwer. Immer kurz bevor potenzielle Langeweile aufkommen könnte wird man mit einem braunen Schwall zurück ins Boot geholt. Als Belohnung gibt es fein gestreute Highlights, die auch ausgewachsene Paddler bis Oberkante Unterkiefer eintauchen lassen. Fast 20 km schieben uns die Wassermassen durch das Helental. Schneller als einem lieb ist wird man daran erinnert wie kalt es auf den Händen werden kann, wenn man 3 Stunden durchwegs unterwegs ist.

Am Ausstieg ist man froh über ein bisschen Sonne. Erst jetzt fängt der Kopf wieder zu arbeiten an. Uhrzeit. Autoschlüssel. Wie sieht es eigentlich jetzt mit dem Pegel aus? Und dann trifft einen eiskalt das, was die letzten Stunden zu kurz gekommen ist. Das Denken. Mist! Ich habe meine Schuhe und meine Hose im falschen Auto gelassen. Keine Socken, keine Schuhe und keine Hose. Aber! Den Pegel haben wir erwischt!

Bis zur nächsten Pegeljagd!

Euer Paddelclub Pernitz